Sand am Meer
Ruuums!
Ich zucke zusammen. Erschrocken vom Knall der Tür, die ich hinter mir zugezogen – nein, zugeworfen – habe, drehe ich mich um. Egal. Ich muss weg von hier. Es stinkt. So kann ich nicht atmen. So kann ich nicht weiterleben.
Raus
Raus.
Raus!
Meine Schritte werden schneller. Ich trete in Pfützen. Das Wasser spritzt mir bis zu den Knien. Normalerweise hätte ich das sofort sauber gemacht. Nein, ich wäre erst gar nicht in eine Pfütze getreten.
Aber jetzt?
Egal!
Ich lege einen Zahn zu. Die Wut in mir verleiht meinen ansonsten untrainierten Beinen Kraft. Ich laufe durch die Straßen, als wäre jemand oder etwas hinter mir her, als ginge es um mein Leben.
Wobei – es geht um mein Leben!
Vor wem ich davonlaufe?
Vor mir selbst.
Ich weiß, es ist aussichtslos. Ich hole mich doch ständig wieder ein. Dennoch verleiht mir das Rennen für kurze Zeit das Gefühl, vor mir entkommen zu können.
Irgendwann gebe ich den Kampf auf. Ich bin nicht schnell genug, um mich selbst abzuhängen. Verzweifelt lasse ich mich zu Boden fallen. Da sitze ich nun
ausgelaugt
ausgesaugt
aussichtslos
Und mir ist klar – das alles habe ich mir selbst zuzuschreiben, mir und nur mir. Ich hätte weiterhin mitspielen können. Ich hätte gar nicht erst damit anfangen müssen.
Hätte, hätte … Fange ich etwa an, mir faule Entschuldigungen für meine Entscheidungen zuzuflüstern?
Wie erbärmlich
Wie ärmlich
Es nützt nichts – damit muss ich jetzt leben. Ich muss einen klaren Kopf fassen, muss meine Gedanken ordnen, muss aufhören, mich selbst fertig zu machen.
Ich nehme einen kleinen Stein, schmeiße ihn in die Pfütze, die ganz nah neben mir liegt. Ich schnappe mir einen weiteren Stein, diesmal einen größeren, schmeiße ihn etwas stärker. Es spritzt. Tropfen berühren mein Gesicht. Das wiederhole ich so lange, bis ich über mich selbst schmunzle.
Gut. Ich kann wieder ansatzweise über mich selbst lachen. Gut so.
Dabei ist die ganze Geschichte nicht nur lächerlich, sondern auch überaus ärgerlich, unendlich peinlich und vor allem ethisch verwerflich!
Das habe ich nun davon, dass ich nicht auf mein Herz, sondern auf die guten Ratschläge meiner Umwelt gehört habe.
„Such dir einen gut bezahlten Job, dann stehen dir alle Türen dieser Welt offen!“, ist der Lieblingsspruch meiner Oma.
Sie meint es gut mit mir. Hat die Kriegswirren als Mädchen und junge Frau miterlebt. Weiß, was es heißt, zu hungern und keine sichere Zukunft vor sich zu haben. Heute sitzt sie mit ihren beinah 100 Jahren meist in ihrem Sessel, blickt traurig vor sich hin. Wenn sie mich bemerkt, lächelt sie mich an und sagt voller Stolz, dass sich alles gelohnt habe, wenn sie mich so vor sich sehe.
Alles hat sich gelohnt?
Was soll dieses alles sein?
In diesen Momenten verfinstert sich ihr Gesicht. Sie schweigt. Ich kann nur ahnen. Und manchmal denke ich mir, dass es sogar besser ist, nicht über alles Bescheid zu wissen. Doch das hilft mir jetzt auch nicht weiter.
Würde meine Oma mich auch noch anlächeln, wenn sie wüsste, dass ..?
Ich hebe einen weiteren Stein auf, schmeiße ihn in die Pfütze, die mittlerweile mehr Steine als Wasser umfasst. Dabei wird mir die Ironie dieser Aktion bewusst.
Steine und Wasser
Wasser und Steine
Wer hätte es für möglich gehalten, dass Wasser und Steine mein gesamtes Weltbild über den Haufen werfen?
Gut ja stimmt – genau genommen sind es Wasser und Sand, aber so kleinlich wollen wir jetzt nicht sein.
Wäre ich nur nicht so neugierig, dann könnte ich weiterhin in der Blase leben, die ich mir über Jahre aufgebaut habe, in der ich mich bis heute so wohl gefühlt habe. Aber nein … Ich musste ja die Papiere auf dem Schreibtisch meiner Chefin durchblättern. Das hätte ich lieber sein lassen. Denn darin waren nicht wie erhofft die Berichte über ihre gut gehüteten Anlageprognosen, sondern ein Bericht über die katastrophalen Zustände in einem von uns als Vorzeigeprojekt hochgepriesenen Investment.
Scheiße! Und ich bin Teil davon. Habe mehrere große Deals eingefädelt. Bin mit Schuld an persönlichen Schicksalen, aber auch an globalen Auswirkungen.
Wie naiv kann man nur sein?
Ich habe mir das zu romantisch vorgestellt. Eine Win-win-Situation für uns, aber auch für die Arbeiter in Indien. Durch unser Projekt verdienen sie für indische Verhältnisse gut, was uns wiederum wenig kostet. Dadurch erzielen wir einen noch höheren Gewinn.
Klingt doch ganz gut, oder?
Doch die Fotos, die ich heute im Bericht gesehen habe, gehen mir nicht mehr aus dem Kopf.
Spindeldürre Männer barfuß mit einem Tuch um die Hüften bekleidet Sand schaufelnd.
Über ihnen ein Hang der auf sie zu stürzen droht und Wachen die sie von sicherer Entfernung nicht aus den Augen lassen.
Ich hatte ja keine Ahnung! Dachte immer, Sand gibt es genügend, nicht umsonst heißt es:
… wie Sand am Meer …
Dabei stimmt das nicht. Sand am Meer wird knapp.
Überall. Es ist kein Übermaß mehr vorhanden.
Schuld daran? Wir Menschen. Auch ich mit meinen Investmentgeschäften.
Kosmetik, Bauindustrie, Computer … Sand ist wertvoll. Sand ist knapp.
Unsere Geschäfte in Indien haben dazu geführt, dass dort immer öfter die Küsten überschwemmt werden. Menschen sind bereits gestorben. Kinder haben für unsere Gier ihr Leben gelassen.
Wie soll das weitergehen? Nach mir die Sintflut? Hauptsache meine Geschäfte laufen und meine Taschen klingeln?
Ich habe Fotos von den Opfern gesehen. Diese Bilder werde ich nie mehr vergessen.
Mein Kopf dröhnt …
Bin ich eine Mörderin?
Ein weiterer Stein landet auf dem Haufen vor mir, der noch vor Kurzem eine Pfütze war. Im Bausektor und in der Tourismusbranche geht es auch darum, immer mehr aufzutürmen. Deshalb wird der Sand ja in so großen Mengen gebraucht. Deshalb ist Sand mittlerweile nach Wasser die am meisten konsumierte Ressource der Welt.
Mir wird schlecht.
Noch heute Morgen war ich überzeugt, dass ich in meinem Leben alles richtig mache. Ich bin finanziell abgesichert. Ich habe einen Job, auf den meine Familie stolz ist. Was brauche ich mehr? Doch dass Menschen unter erbärmlichen Umständen arbeiten müssen, wodurch andere ihr Leben verlieren – darunter auch kleine Kinder –, und die Ökosysteme unserer Erde noch stärker zerstört werden, als es ohnehin schon der Fall ist …
Das kann das ganze Geld doch nicht Wert sein, oder?
Eine Investmentbankerin mit Gewissensbissen …
Ist das sarkastisch? Oder gar zynisch?
Dabei kann ich doch nichts dafür, dass beim Anblick dieser Bilder mein Herz angesprochen wurde. Ja, rational hätte man das wegdiskutieren können. Schwamm drüber und weiter. Doch ich bin wohl nicht hart genug dafür.
Mein Herz ist nicht aus Beton.
Mein Herz ist gerade aus Glas.
Wurde dafür auch Sand verwendet, der Menschen und Ökosysteme in Gefahr bringt?
Plopp …
In einem winzigen Augenblick ist mein ganzes Leben zerplatzt. Die Blase hält mich und meine Welt nicht länger zusammen. Alles, was mir bislang als wichtig und richtig erschien, hat sich in Luft aufgelöst.
Wieviel Leid müssen Menschen ertragen, damit ich mir und anderen Menschen die Taschen füllen kann?
Geld hat mich hungrig gemacht. Hungrig nach mehr. Doch jetzt merke ich, dass dieses Mehr mich nie richtig satt gemacht hat. Es war wie ein nicht zu stillender Durst. Wie ein Hamster habe ich mich lange genug im Hamsterrad abgestrampelt und dabei an einem anderen Ende der Erde auch noch Leid angerichtet.
Ich frage mich, ob es den Menschen besser gehen würde, wenn sie nicht Sand schaufeln würden. Hätten sie für sich und ihre Familien genügend zu essen?
Halt!
Stopp!
Hör sofort auf, dir alles wieder schönzureden! Suche nicht nach Entschuldigungen, um dein Handeln für dich erträglicher zu machen! Willst du dich gleich wieder in deine alte Blase zurückziehen? Stehe zu deinem Handeln! Denke an die Bilder. Denke an die Konsequenzen.
Es muss sich was ändern.
Ich muss was ändern.
Gleich morgen.
Wahrscheinlich.
Vielleicht …
© Fiona Novale